Seit dreieinhalb Jahren leben meine Tochter Miriam und ich nun in Nepal und sind weltweit viel unterwegs. Sri Lanka, USA, Mexiko, Holland, Norwegen, Kanada – Miriam hat mir ihren fünf Jahren jetzt schon ihren zweiten Pass, weil im ersten alle Seiten voll mit Stempeln waren.
Wenn wir von unserem Leben erzählen, fragen mich viele Leute sofort ob ich nicht Angst habe, dass Miriam mir das irgendwann vorwirft, dass sie nicht an einem Ort aufwächst. Ob Kinder nicht Wurzeln brauchen und Stabilität, und ich glaube viele meiner Gesprächspartner denken sich eigentlich, dass ich sehr egoistisch bin und mein Kind über den Globus schleppe, weil ICH gerne Reisen möchte. Wenig Verständnis finden auch unsere einfachen Lebensbedingungen in Nepal, lange Zeit ohne fließendes Wasser, Waschmaschine oder Fernseher.
Ich denke nicht, dass ich egoistisch bin. Natürlich entspricht unser Lebensstil mir sehr, aber gleichzeitig weiß ich, dass die Vorteile für Miriam unzählbar sind.
Die Welt wächst immer mehr zusammen, Bewerbungen ohne das Schlüsselwort „interkulturelle Kompetenz“ sind kaum noch denkbar und alle sprechen von Weltbürgern, Toleranz und Verständnis. Aber warum sollte man diese Dinge erst im Auslandssemester mit 21 Jahren oder im Praktikum nach dem Studium lernen? Miriam mit ihren fünf Jahren ist eine Weltbürgerin, und statt Toleranz und Verständnis zu lernen, wächst sie im Bewusstsein auf, dass Andersartigkeit ganz normal ist und zum Leben dazugehört.
Anstatt sich in der Schule durch den Englischunterricht zu quälen, lernt sie Sprachen im Handumdrehen beim Spielen mit ihren Freunden. Ich wusste bis vor Kurzem gar nicht, dass sie Englisch kann, bis sie anfing, ganze Sätze zu sprechen. Statt aus Büchern über verschiedene Religionen zu lernen, lebt sie sie und lernt sich auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren, statt auf die Unterschiede. In einer Kirche sucht sie Jesus und zündet Kerzen an, vor einer Buddhastatue betet sie ihre tibetischen Mantras, in Hindutempeln weiß sie wie man ein Tikka macht und in Mexiko lernt sie über die Maya Götter. Für sie schließt sich nichts gegenseitig aus, es ergänzt sich nur und beschreibt so das Ganze. Ist es nicht genau das, was wir in jungen Menschen heutzutage brauchen?
Durch unser einfaches Leben in Nepal lernt Miriam ganz praktisch, dass das Leben in Deutschland in schönen Wohnungen mit Wasch- und Spülmaschine, Fernseher und einem Zimmer voller Spielsachen nicht die Norm in der Welt ist. Der Großteil der Menschen lebt anders, aber nicht zwangsläufig schlechter. Miriam hat früh gelernt, sich ihre eigenen Spielzeuge zu machen, sie kann schon mit fünf Jahren Verantwortung für eigene Aufgaben übernehmen wie ihre eigene Wäsche zu waschen und sie wächst nah an der Natur auf. Sie weiß, dass Fleisch von Tieren kommt die geschlachtet werden müssen und dass Kartoffeln langsam im Boden wachsen, weiß dass man mit Hühnerkot Pflanzen düngen kann und dass man mit Wasser sorgsam umgehen muss. Und all dies nicht, weil sie es gelesen hat, sondern weil dies ihre Lebensrealität ist.
Sie versteht, dass wir privilegiert sind in unserer Stellung, da wir uns aussuchen können, wo wir leben wollen. Sie hat nach dem Erdbeben ohne mit der Wimper zu zucken ihre Anziehsachen hergegeben, damit andere Kinder etwas Warmes hatten und hilft mir in allen Workshops und Meetings die wir durchführen. Sie begleitet mich in meiner Arbeit, ist meine manchmal meine Übersetzerin und meine Assistentin. Gleichzeitig kann aber auch Kind sein, im Dreck spielen, laut sein und sich austoben. Sie lernt es, sich Herausforderungen zu stellen und mutig zu sein, da sie jeden Tag neues entdeckt und sich damit beschäftigen muss und möchte. Sie lernt sich selbst und uns beiden in unseren Einschätzungen zu vertrauen, wenn wir neue Wege gehen.
Natürlich gibt es auch viele Herausforderungen. Krankheiten, Entfernung von Freunden und Familie, Sprachprobleme auf meiner Seite, es ist nicht alles rosarot. Vor allem jetzt, wo Miriam ins Schulalter kommt stehen mir viele Entscheidungen bevor und es wird sich mit Sicherheit viel ändern. Trotzdem bin ich mir sicher, dass Miriam in den letzten dreieinhalb Jahren unglaublich viel gelernt hat, was ihr ihr Leben lang helfen wird. Nicht nur Faktenwissen über andere Kulturen, sondern vor allem das Bewusstsein, dass es unterschiedliche Kulturen gibt und das aber nicht schlimm ist. Dass man die Gemeinsamkeiten sucht, anstatt die Differenzen, und dass es immer einen Weg gibt. Und ich glaube nicht, dass sie mir das eines Tages vorwerfen wird…